Antifaschismus 2.0

Verschwörungstheorien und Faschismus im Web 2.0

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Was ist Kryptofaschismus?

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Faschismus ohne Faschisten

Gibt es heute überhaupt noch Faschisten? Abgesehen von Einzelfällen, denen es wohl mehr um eine rebellisch-provozierende Pose geht als um politische Inhalte, gibt es doch kaum noch jemanden, der sich selbst so bezeichnet oder es auch nur dulden würde, von anderen so bezeichnet zu werden. Faschismus ist zum Tabu und zum inhaltlich unscharfen, fast beliebig verwendbaren Schimpfwort geworden. Faschistisches Gedankengut ist damit leider keineswegs verschwunden. Allerdings sind seine historischen Vorläufer derart gründlich diskreditiert, daß es sich in der breiteren Öffentlichkeit nur noch ohne offene Bezugnahme auf die eigene Tradition artikulieren kann.

Faschistische Positionen werden heute hauptsächlich von Menschen vertreten, die jeden Faschismusvorwurf voller Entrüstung von sich weisen. Dabei handelt es sich durchaus nicht immer um taktische Tarnung. In der Mehrheit der Fälle scheint den Betroffenen der faschistische Charakter bestimmter Positionen tatsächlich nicht klar zu sein.

Gibt es also einen Faschismus ohne Faschisten, ohne Bekenntnis zum Faschismus? Kann jemand ein Faschist sein, auch wenn er selber davon überzeugt ist, es nicht zu sein?

Wenn wir davon ausgehen, daß der Faschismusbegriff eine objektive Grundlage hat und nicht nur von der subjektiven Selbsteinschätzung abhängt, dann ist diese Frage zu bejahen.

Was ist Faschismus?

Faschismus ist keine geschlossene Ideologie. Es gab in der Geschichte verschiedene Faschismen, die sich ihrerseits aus der Bündelung unterschiedlicher, teilweise sogar gegensätzlicher Strömungen in Abhängigkeit von bestimmten historischen Bedingungen entwickelten. Es lässt sich allerdings so etwas wie ein gemeinsamer Kernbestand faschistischer Weltanschauungen ausmachen:

Ziel und Mittelpunkt faschistischer Bestrebungen ist immer ein reakionär-utopisches Vergemeinschaftungsmodell kleinbürgerlichen Zuschnitts in Gestalt der mythischen Überhöhung und Idealisierung eines als organisch-naturwüchsig und bei aller inneren Differenziertheit und Hierarchisierung wesensmässig homogen vorgestellten fiktiven Kollektivs: das „Volk“ und die „Volksgemeinschaft“.

Dieser mythische Volksbegriff impliziert eine doppelte identitätsbildende Feindbildbestimmung:

Zum einen die Abgrenzung nach außen, gegen andere „Völker“, die mit dem eigenen „Volk“ als nicht dazugehörige äußere Feinde in einem Konkurrenzkampf stehen.

(Diese Feinderklärung nach außen kann sich auch nach innen richten, nämlich gegen alle, die sich einer Beteiligung am Kampf ihres „Volkes“, z.B. aus politischen Gründen, entziehen: diese erscheinen nämlich automatisch als objektive Agenten des Feindes im Inneren, die bekämpft werden müssen).

Zum anderen eine zwiefache Abgrenzung nach innen: einerseits nach oben, andererseits nach unten (hier offenbart sich der kleinbürgerliche Ursprung der faschistischen Vorstellungswelt):

Nach oben gegen „die Herrschenden“, die „Etablierten“, die „das Volk“ unterdrücken, und nach unten gegen vermeintlich nicht integrationswillige oder „von Natur aus“ integrationsunfähige Elemente, die die „Volksgemeinschaft“ belasten und ihre Homogenität gefährden. Die „Volksgemeinschaft“ konstituiert sich also über die Ausgrenzung vermeintlich „volksfremder“ oder „volksfeindlicher“ Elemente von oben und unten, die nicht dazu gehören: einerseits die herrschenden Eliten teils als vom „Volk“ losgelöste, egoistische Interessen verfolgende, „entwurzelte“ Kaste, teils als fremde, international organisierte Gruppe (wie die „internationale Hochfinanz“), andererseits die Unangepassten und Asozialen teils als degenerierter, „entarteter“ Bodensatz der Gesellschaft (z.B. sogenannte „Sozialschmarotzer“ oder auch sexuelle Minderheiten), teils als von Außen eingedrungene Fremdkörper (z.B. Migranten).

Dieses „völkische“ Vergemeinschaftungskonzept manifestiert sich in der Regel folgerichtig in entsprechenden Grundhaltungen wie Nationalismus, Rassismus, Elitenfeindlichkeit / Populismus, Antisemitismus.

Faschismus wird oft fälschlich reduziert auf Diktatur bzw. autoritäre Herrschaft.

Dieser verkürzte Faschismusbegriff blendet die entscheidende Tatsache völlig aus, daß der Faschismus in allen seinen historischen Erscheinungsformen immer mit einem emanzipatorischen, sozialrevolutionären Anspruch aufgetreten ist. Allerdings ging und geht es im Faschismus immer um eine völkisch-kollektive „Befreiung“ vom schädlichen Einfluß der inneren und äußeren Feinde.

Individuelle Freiheiten oder pluralistische Demokratiekonzepte haben in dieser Vorstellungswelt keinen Platz. Die faschistische „Volksbefreiung“ bzw. „Volksherrschaft“ ist totalitär, d.h. sie strebt nach einem Ideal von „Demokratie“, das sich in einer Einheit von „Volkswille“ und Herrschaft realisieren soll, also letztlich in der totalitären Identität von Staat und Gesellschaft.

Der Faschismus geht über den autoritären (aber eben nicht totalitären) Nationalismus hinaus, indem er ihn mit einem sozialrevolutionären Anspruch verbindet. Sein Emanzipationskonzept zielt aber lediglich auf die Befreiung des „völkischen“ Kollektivs von „fremden“ Einflüssen (wie schon beschrieben durch die Abwehr nach außen und innen, oben und unten) und hat mit linken emanzipatorischen Bestrebungen nichts zu tun, die die Ausbeutung, Verdinglichung und Entfremdung erzeugende Logik der Warenproduktion grundsätzlich in Frage stellen und von einem universalistischen Emanzipationsbegriff ausgehen, für den gesellschaftliche und individuelle Befreiung nicht voneinander zu trennen sind und der über jede völkische oder nationale Abgrenzung hinausgeht.

Gerade dadurch, daß er das Bedürfnis nach sozialer Emanzipation völkisch-nationalistisch umdeutete und seine Erfüllung in der Errichtung eines totalitären, protektionistischen, nationale Interessen kriegerisch-aggressiv vertretenden Wohlfahrtsstaates vorgaukelte, empfahl sich ja der historische Faschismus den Vertretern des nationalen Kapitals als Bündnispartner und Bollwerk gegen den Marxismus.

Der Anspruch des Faschismus, eine Synthese von rechts und links zu sein, ist selbstverständlich eine Fiktion und der Mythos von der „Volksgemeinschaft“ ist die Vergegenständlichung dieser Fiktion, durch die die Realität gesellschaftlicher Interessengegensätze vernebelt wird.

Die „Wahrheitsbewegung“: eine kryptofaschistische Internetsekte

Bei einer kritischen Durchsicht der in immer mehr Foren und Blogs kursierenden Textproduktion jener mit sektenartigem Fanatismus und Missionseifer vornehmlich im Internet agierenden Bewegung von Verschwörungstheoretikern und radikalen „Systemkritikern“, die sich selbst wahlweise als „Infokrieger“ oder als „Wahrheitsbewegung“ bezeichnen, lässt sich immer wieder ein zugrundeliegender weltanschaulicher Kern erkennen, der sich ziemlich genau mit dem deckt, was wir eben als faschistischen Kernbestand identifiziert haben.

In unzähligen Varianten wird da der unselige Einfluß der Juden – vornehmlich in Gestalt des Staates Israel und der sogenannten „zionistischen Lobby“ – thematisiert, die fehlende Souveränität des deutschen Volkes beklagt und mit allerlei irren Thesen zu belegen versucht, indem zum Beispiel die juristische Legitimität von Staat und Verfassung geleugnet wird; da verbindet sich die klassische Nazi-Klage über die Knechtung Deutschlands durch die Alliierten mit nach links anschlußfähger antiimperialistischer Amerikafeindschaft zum Kampfruf einer befreiungsnationalistischen Querfront, die kein rechts oder links mehr kennen will, sondern nur noch unterdrückte Deutsche; da wird an immer neuen Beispielen und stets mit einem Gestus „demokratischer“ Empörung dargestellt, wie „die Mächtigen“ in Gestalt der Politiker, der Medien, der Konzernherren und der „internationalen Hochfinanz“ das „Volk“ zum eigenen Vorteil belügen, betrügen, manipulieren und auspressen bis hin zu angeblich geplanten Massenmordaktionen zur Bevölkerungsreduktion; da wird in apokalyptischer Sehnsucht der unmittelbar bevorstehende Zusammenbruch des verhassten „Systems“ wieder und wieder herbeigeschrieben und zur Bildung von kleingärtnerisch-subsistenzwirtschaftlich organisierten, von Zins- und Geldwirtschaft unabhängigen „Überlebensgemeinschaften“ aufgerufen, die sich aus dem „System“ ausklinken, „unter Selbstverwaltung stellen“ und „Autarkie“ verwirklichen sollen, um zu Keimzellen einer neuen art- und naturgemässen „Volksgemeinschaft“ zu werden.

Bei den Menschen, die diese Texte nicht nur lesen, sondern auch fleissig weiterverbreiten, zum Beispiel in Social Networks wie dem sich in Teilen unübersehbar und von den Betreibern offenbar ungehindert bräunlich einfärbenden „Volksnetzwerkes“ wer-kennt-wen, handelt es sich oft um Leute, die weder über eine politische Sozialisation und Vorgeschichte, noch über eine wenigstens elementare politische Bildung verfügen, und die in ihrer völligen Unbedarftheit, unter dem Eindruck der in Folge der Krise zunehmend angespannten sozialen Verhältnisse und des damit verbundenen Verlustes gewohnter Sicherheiten einen starken, aber hilflosen Drang nach Aufklärung und politischem Widerstand entwickelt haben, der in seiner Orientierungslosigkeit für alle möglichen, auch mehr als fragwürdige Einflüsse offen ist, vor allem natürlich für solche, welche aufgrund ihres simplifizierenden Populismus schnell einleuchtend erscheinen und dem meist kleinbürgerlichen Horizont dieses Publikums entsprechen. Daraus entwickelt sich, ausgehend vom Verbreitungsmedium Internet, auch zunehmend ein ziemlich blinder, aber eifriger Aktivismus in der realen Welt in Form von Treffen, Stammtischen, Zusammenschlüssen mit dem Ziel der Gründung von Vereinen, neuen Parteien, Interessengemeinschaften und Projekten aller Art, deren vordergründige Lächerlichkeit und Unbeholfenheit nicht dazu verleiten sollte, diese Entwicklung, die gerade erst an ihrem Anfang zu stehen scheint, vorschnell zu verharmlosen.

Linke auf Abwegen

Besonders irritierend wirkt die Tatsache, daß sich sowohl unter den Anhängern als auch unter den Protagonisten dieser Bewegung nicht nur viele finden, die sich subjektiv dem linken Spektrum zugehörig fühlen, sondern auch gar nicht so wenige, die auf eine politische Biographie zurückblicken können, die sich tatsächlich in unbezweifelbar linken Zusammenhängen abspielte, bevor sie – zumeist nach dem 11. September 2001 – ihre Vorliebe für Verschwörungstheorien entdeckten.

Die in diesem Umfeld beobachtbare Konvergenz zwischen rechten und linken Verschwörungstheoretikern wird oft mit dem Schlagwort „Querfront“ kritisiert. Dieser Begriff greift allerdings zu kurz. Denn hier handelt es sich um mehr als nur die Bereitschaft zur Bildung einer Aktionsgemeinschaft zwischen Linken und Rechten. Es handelt sich auch nicht nur um eine punktuelle Öffnung nach rechts. Sondern es handelt sich um eine von Teilen der Linken vollzogene schleichende Umdeutung dessen, was überhaupt unter „links“ zu verstehen ist. In dem hilflosen Versuch, die 1989 ausgebrochene linke Orientierungskrise zu bewältigen, findet dort, unter äußerlicher Beibehaltung der gewohnten Denkmuster und Terminologien, eine Neuorientierung in Form von subtilen semantischen Verschiebungen statt, in deren Folge linke Kapitalismuskritik für völkisch-nationalistische Deutungen geöffnet und mit kryptofaschistischen Diskursen kompatibel gemacht wird, ohne daß dies von den Betroffenen als Bruch empfunden wird. Diese erschreckende Entwicklung ist zweifellos auch eine Folge des totalen Niedergangs linker Theorieproduktion und –rezeption.

Von der herrschaftslegitimierenden Ersatzreligion des staatssozialistischen Vulgärleninismus, der schon in seinen besten Zeiten nichts anderes war als eine zum Zwecke der Tauglichkeit als Waffe im ideologischen Krieg zurechtgestutzte primitive Schrumpfform des Marxismus, ist in den Köpfen mancher einst linientreuer Altlinker nichts übriggeblieben als ein paar hartnäckige Feindbilder, mit denen man sich durchaus auch in der NPD sehen lassen könnte, namentlich, wenn es gilt, gegen „U$rael“ vom Leder zu ziehen.

Hier muß ein ernstgemeinter Antifaschismus mehr leisten als eine bloß äußerliche Abgrenzung, nämlich eine inhaltliche Auseinandersetzung. Jene Traditionslinken, die sich immer noch an die irreführende Dimitroff-Definition von Faschismus halten, sind dazu leider oft nicht in der Lage. Wer den Faschismus als „Diktatur des Finanzkapitals“ mißversteht und daraus womöglich die absurde Schlußfolgerung ableitet, die faschistischen Mächte der Gegenwart seien die USA und Israel, dessen Ansichten unterscheiden sich praktisch nicht von denen der Neo-Nazis.

Faschismus ist, speziell in seiner antiimp erialistischen Variante als „nationaler Sozialismus“ eine mit dem linken Sozialismus konkurrierende Form der Kapitalismuskritik, auch wenn er ihm sowohl in den Grundlagen als auch in den Zielen diametral entgegengesetzt ist. Wer allerdings Grundlagen und Ziele aus den Augen verliert und sich nur auf das gemeinsame Feindbild konzentriert, für den ist der Schritt von links nach rechts nicht groß und erscheint nicht notwendigerweise als Bruch, sondern lediglich als Akzentverschiebung im Kampf gegen einen gleichbleibenden Feind.

Für jene Teile der Linken, die die Werte der Aufklärung nicht als unhintergehbare Grundlage ihres Denkens und Handelns verinnerlicht haben, die zu den vermeintlich bloß „bürgerlichen“ Menschenrechten ein allenfalls instrumentelles Verhältnis haben und die das „Totalitarismuskonzept“ ablehnen, weil sie zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Totalitarismus nicht bereit sind, ist das unmerkliche Abgleiten in den Kryptofaschismus eine nicht zu unterschätzende Gefahr.

Die Entwicklung eines Horst Mahler ist kein Einzelfall, sondern lediglich ein Extrembeispiel.

Und viele, die diesen Entwicklungsweg gehen, wähnen sich nach wie vor als Linke, während sie, oft tatsächlich ohne es selbst zu merken, zu pseudolinken Kryptofaschisten geworden sind.

Wer aber nicht mehr gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse in Frage stellt, sondern Kapitalismuskritik darauf reduziert Sündenböcke in Gestalt von bestimmten Personen, gesellschaftlichen Gruppen, Staaten und Institutionen zu benennen, dies womöglich noch anhand von allerlei Verschwörungstheorien zu „belegen“ und „im Namen des Volkes“ gegen diese vermeintlichen Bösewichter zu kämpfen, der hat den Boden dessen verlassen, was innerhalb einer linken Tradition noch konsensfähig sein kann.

Zuletzt aktualisiert am Dienstag, den 17. August 2010 um 18:31 Uhr

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Auf die Begräbnishalle des Neuen Jüdischen Friedhofes in Dresden ist laut Medienberichten ein Brandanschlag verübt worden. Unbekannte Täter zündeten am Morgen des 29. August 2010 die Eingangstür an, wie das Landeskriminalamt Sachsen und die Staatsanwaltschaft Dresden mitteilten. Eine Frau bemerkte den Schwelbrand und informierte Polizei und Feuerwehr. Das Feuer an der Tür konnte gelöscht werden, weitere Schäden an der einstigen Synagoge in Johannstadt konnten verhindert werden. Eine Sonderkommission des Landeskriminalamtes Sachsen ermittelt wegen schwerer Brandstiftung. Der Schaden an der Tür und dem Gebäude beläuft sich den Angaben zufolge auf mindestens 5000 Euro.

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